←  Having fun with 01!  →
MEDIENKOMPETENZ IN DIGITALEN MEDIEN
Es hat sich was verändert

Mit Blick auf die veränderte Situation seit der Einführung des Begriffs der Medienkompetenz durch Dieter Baacke sollte allerdings auch seine Interpretation verändert oder wenigstens erweitert werden.

Wir leben mittlerweile im digitalen Zeitalter. Das bedeutet, dass wir heute – wie es sich schon Brecht in Zeiten des Volksempfängers mit dem Radio gewünscht hätte [11] – nicht mehr nur von institutionalisierten TV-, Radio- oder Print-Angeboten gefüttert werden, sondern selbst zum aktiven Teilnehmer wurden. Eine der fantastischsten Visionen globaler Kommunikations- und Informationsorganisation wurde quasi spätestens mit dem World Wide Web tatsächlich Realität.

[11]
Siehe Bertolt Brecht: „Radiotheorie 1927-1932“, in: H. Haas & W. R. Langenbucher (Hrsg.): Medien- und Kommunikationspolitik. Wien 2002, S. 1-9

Nun leben wir im Jahr 20 nach dessen offizieller Freigabe zur öffentlichen Nutzung, bzw. im Jahr 18 nachdem durch Veröffentlichung des Mosaic Browsers faktisch die breite Öffentlichkeit begann das Web zu bevölkern [12] – und noch immer hantieren wir mit einem Begriff von Medienkompetenz, der von einer grundsätzlich anderen Situation ausgeht.

[12]
Prof. Olia Lialina und Dragan Espenschied: „Do you believe in Users?“ in: Prof. O. Lialina und D. Espenschied (Hrsg.): Digital Folklore. To computer users, with love and respect. Stuttgart 2009, S. 10

Im Grunde ist die von Baacke definierte Medienkompetenz zwar durch die Verknüpfung mit Kommunikativer Kompetenz bereits recht weit vorausgedacht und auch die Anstrengungen in Bezug auf heutige von digitalen Medien geprägte Verhältnisse (Stichwort: Cyberspace) scheint er damals bereits richtig erahnt zu haben.[13] Aber dennoch kann unter den Vorzeichen der 1960er Jahre die heutige Situation digitaler Kommunikation über WWW, Smartphones, etc. definitiv nicht vorausgeahnt worden sein, weshalb eine Aktualisierung des Begriffs in jedem Fall sinnvoll ist.

[13]
So bei Anna Eberhöfer: „Medienkompetenz vs. Media Literacy“, Wien 2008, S. 4

Durch die Errungenschaften des Web2.0 [14]stellt sich sogar eine noch besonderere Situation dar, weil zwar einerseits alle davon reden, dass die Userbeteiligung im Web gestiegen und es dadurch noch demokratischer geworden sei.[15] Andererseits aber drängt sich der Eindruck auf, dass die Beteiligungsformen der gängigen Web2.0-Formate doch sehr beschränkt sind, dass sie hauptsächlich auf Profit und informationelle Ausbeutung ausgelegt sind,[16] dass mit ihrer Hilfe rein inhaltlich weniger ein Schritt nach vorne als zwei Schritte zurück gemacht wurden und dass das Ganze mehr an Volksempfänger erinnert, als an irgendeine Form demokratischer Kommunikationsstrukturen. Die User lassen sich quasi, nachdem die WWW-Revolution bereits etwa 20 Jahre im Gang ist, von der nach Daten lechzenden Medienindustrie an der Nase herumführen, sodass der alte Brecht alles andere als begeistert wäre. Geert Lovink sagt dazu: „Es liegt im Interesse vieler Firmen fertige Onlinedienstleistungen anzubieten, aber wir Benutzer dürfen uns davon nicht beeindrucken lassen“.[17] So sieht auch der Medientheoretiker Douglas Rushkoff eine ganz generelle Notwendigkeit nach einer Fähigkeit des Users zu programmieren: „Programming is the sweet spot, the high leverage point in a digital society. If we don't learn to program, we risk being programmed ourselves“.[18] Rushkoff bezieht seine Warnung zwar auf drohende internationale Konkurrenz gegenüber den etablierten IT-Weltmächten, aber aus dem Blickwinkel Web2.0 ist die Situation bereits eingetreten: Große Teile der User können heute nicht programmieren, sind dadurch unmündig im Wettkampf mit der Medienindustrie und unterliegen dadurch, dass sie sich die Strukturen, mit denen sie das eigentlich offene Web benutzen, von der Industrie aufdrücken lassen.

[14]
Siehe Tim O'Reilly: „What is Web 2.0?“, in: Stand: 17.6.2011 http://www.oreilly.de/artikel/web20.html
[15]
Tobias Mikloweit: „Social Software. Zusammengehörigkeit und Demokratisierung im Web 2.0“, in: Prof. Dr. Tobias Kollmann und Matthias Häsel (Hrsg.): Web 2.0. Trends und Technologien im Kontext der Net Economy. Wiesbaden 2007, S. 68
[16]
Dennis Knopf: „You, as in User. Audience economics and the web“, Stuttgart 2007, S. 12
[17]
Geert Lovink: „Programmieren aus Leidenschaft“, in: Stand: 18.06.2011 http://berlinergazette.de/programmieren-aus-leidenschaft/
[18]
Douglas Rushkoff: „Program or be programmed. Ten commands for a digital age“, New York 2010, S. 133

Und so erscheint es einmal mehr umso unverständlicher, weshalb politische Verantwortungsträger sich mit einem Begriff von Medienkompetenz begnügen, der sich hauptsächlich auf die Benennung von Gefahren konzentriert.[19] Joachim Weiner mutmaßt gar, dass die Volksvertreter den Bürger wohl lieber zum medial unmündigen Konsumenten formen, der das Spiel der Medienindustrie mitmacht und nicht gerade in die größten arbeitsmarktrelevanten Fettnäpfchen tritt, als tatsächlich Medienkompetenz zu fördern und damit die Industrie vor gewisse Probleme zu stellen.[20] Ob man dieser These nun zustimmt oder nicht – in jedem Fall kann eine bewahrpädagogische Medienkompetenzförderung, so wie sie heute betrieben wird, nicht gesellschaftsdienlich, sondern maximal der Stabilisierung des Marktsystems dienlich sein. Und das kann ja nun wirklich nicht der Anspruch sein. Ich halte also fest: Medienkompetenz kommt in dieser Arbeit hauptsächlich mit Bezug auf digitale und damit prinzipiell programmierbare Medien zur Anwendung, sodass ich von nun an den Begriff "Digitalmedienkompetenz" verwenden werde. Darüber hinaus kann im Paradebeispiel freier Kommunikation, dem Web, als Status Quo eine Bevormundung durch die Medienindustrie mittels vordergründig demokratischer Web2.0-Formate erkannt werden, die es durch sinnvolle Medienkompetenzförderung umzukehren gilt.

[19]
Die Enquete-Kommission des deutschen Bundestages „Internet und digitale Gesellschaft“ hat beispielsweise kürzlich einen Bericht zur Medienkompetenz veröffentlicht, in dem wieder einmal die Themen Risiko und Jugendschutz eine prägende Rolle spielen. Siehe „Medienkompetenz“, in: Stand: 29.06.2011 http://www.bundestag.de/internetenquete/
dokumentation/2010/Sitzungen/20110627/
11-06-27_Enquete-Kommission_PG
_Medienkompetenz_Gesamttext.pdf
[20]
Joachim Weiner: „Medienkompetenz. Chimäre oder Universalkompetenz?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 03/2011, S. 46



MEDIENKOMPETENZ IN DIGITALEN MEDIEN
Der Medienamateur

Mit Blick auf heutige Digitalmedienkompetenz und die besonderen Eigenschaften digitaler Medien wird schnell klar, dass selbst die bereits weit gedachte Medienkompetenz nach Dieter Baacke hierfür angepasst werden muss. Ich will deshalb eine Theorie des Medientheoretikers Dieter Daniels vorstellen und ihre mögliche Anwendung auf Digitalmedienkompetenz herausarbeiten. Die Theorie Daniels‘ findet sich in seinem Buch „Kunst als Sendung“ und ist betitelt mit dem Wort „Medienamateure“. Daniels definiert hier einleitend zwei verschiedene Möglichkeiten „sich der industriellen Vorprägung von Medien zu entziehen: die des Flaneurs und des Amateurs“.[21]

[21]
Siehe Dieter Daniels: „Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet“, München 2002, S. 206

Die Figur des aus einer Kunsthaltung zu Beginn der Moderne abgeleiteten Medienflaneurs ist laut Daniels deshalb so bekannt, weil seine Beobachtungen über Medien auf einem breiten theoretischen Fundament aufbauen und dadurch viel Beachtung finden. Die für Daniels aber weitaus interessantere Figur in diesem Spiel ist die des Medienamateurs, weil er trotz großem Anteil an vielen wichtigen Entwicklungen der Medien unbeachtet bleibt.

Um die Wichtigkeit des Amateurs aufzuzeigen und ihn etwas genauer zu definieren führt Daniels verschiedene Beispiele an, in denen der Medienamateur eine große Rolle für die Entwicklung eines Mediums gespielt hat: Radioboom, Daguerreotypomanie, oder Funkamateure wie der junge Marconi,[22] TV-Amateure (die mit Nipkowscheiben sogar Radiosignale visuell übersetzten) oder Telefonamateure (die – just for the thing of it – symbolische Kurzstreckentelefonlinien aufbauen). Für alle gilt laut Daniels: sie beschäftigten sich mit ihrem Medium bereits vor oder unabhängig von industrieller Massenfertigung und widerlegen damit die wissenschaftlich gängige Annahme, Amateure seien eine logische Folge von Massenproduktion und Marketing und dadurch nicht weiter wichtig.[23]

[22]
Guglielmo Marconi wurde berühmt, als er die ersten Funksignale über den Atlantik, wurde außerdem mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet und gründete ein börsengehandeltes Telekommunikationsunternehmen. Siehe The Nobel Foundation (Hrsg.): "Marconi Biography", in: Stand: 21.06.2011 http://nobelprize.org/nobel_prizes
/physics/laureates/1909
/marconi-bio.html
[23]
Dieter Daniels: „Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet“, München 2002, S. 207 ff.

Damit deckt sich außerdem die Aussage Henry Jenkins‘: „We learn in the history books about Samuel Morse's invention of the telegraph but not about the thousands of operators who shaped the circulation of messages“,[24] sowie die Tatsache, dass selbst Amateurfunker mit ihrem nicht gerade populären Hobby heute international im Katastrophenschutz eine gesellschaftlich sehr wichtige Rolle spielen.[25]

[24]
Henry Jenkins: „Fans, Bloggers, and Gamers. Exploring Participatory Culture“, New York 2006, S. 181
[25]
Beispielsweise THW Karlsruhe: "Funk im Katastrophenschutz" in: Stand: 18.06.2011 http://www.thw-karlsruhe.de/funk.html

Damit wäre wohl die generelle Relevanz von Amateuren in Vor-Computer-Medien unterstrichen, im Folgenden wird dies noch ausgeweitet auf das digitale Medium. Dieter Daniels stellt dafür dar, wie die 1959 aus dem Modelleisenbahnclub (sic!) am MIT (Massachusetts Institute of Technology) entstandene Hackerbewegung mit einem spielerischen Arbeitsansatz beim Programmieren den kompletten Umgang mit der Maschine bis heute revolutioniert hat,[26] nachdem ein Programmierer vorher bedingt durch Time-Sharing [27] eher selten direkten Kontakt mit der Maschine hatte. Dabei muss wieder darauf hingewiesen werden, dass der Hacker – auch heute noch gerne gewählt als Bezeichnung für einen Eindringling in fremde Computersysteme – eben dieses nicht ist, sondern schlicht ein Amateur, der auf Software- oder Hardware-Ebene mit dem digitalen Medium sehr kreativ umgeht.[28]

[26]
Dieter Daniels: „Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet“, München 2002, S. 208 f.
[27]
Siehe Wikipedia-Eintrag zu "Time-Sharing", in: Stand: 18.06.2011 http://de.wikipedia.org/wiki/Time-Sharing_(Informatik)
[28]
Auf Software-Ebene beschreibt das treffend: Robert Osband: "The Cheshire Catalyst. Just Who IS This guy?", in: Stand: 28.06.2011 http://cheshirecatalyst.com/identity.html

Und genau hier sehe ich die Verbindung zur Thematik: Hacker sind das Paradebeispiel eines vor Digitalmedienkompetenz nur so strotzenden Users. Einer, der sich eben nicht mit der vom Hersteller geplanten Nutzungsweise zufrieden gibt, sondern stattdessen das Gerät verstehen und neue Nutzungsweisen entdecken möchte.

Diese Art mit dem digitalen Medium umzugehen kann dann zu gesellschaftlich sehr wertvollen Resultaten führen, wie verschiedene Autoren feststellen. Mirko Tobias Schäfer beispielsweise schreibt, dass dann, wenn ein Unternehmen im Bereich der digitalen Medien heute ein Produkt auf den Markt bringt, eine zweite Produktentwicklungsphase beginnt – initiiert und durchgeführt nicht von dem betreffenden Unternehmen selbst (im Gegenteil: oft versuchen Unternehmen diese Aktivitäten juristisch zu unterbinden), sondern von den Usern, die das Produkt "hacken" und teilweise kollaborativ online Projekte starten, um es weiterzuentwickeln. So geschehen zum Beispiel bei Sony‘s Roboterhund Aibo, der jetzt tanzen kann, Microsoft‘s Spielekonsole Xbox, die nach dem Hack auch als Media-Player oder Linux-Webserver nutzbar war, ein alter Nintendo Gameboy, der zum Musik-Editor umfunktioniert wurde [29] oder auch jüngst mit der Einführung des Kinect Kamera-Eingabesystems für die Xbox, das aufgrund der Einzigartigkeit seiner Eingabe für die verschiedensten Hacks verwendet wurde und seit seiner Einführung einen regelrechten Hack-Hype ausgelöst hat.[30] Der reife Digitalmedienamateur ist also fähig zu programmieren, versucht Nutzungsformen von existierenden Produkten auszuweiten, weiß die Möglichkeiten der WWW-Vernetzung zu nutzen, um kollaborativ Projekte durchzuführen, die er darüber hinaus eigenständig plant.

[29]
Mirko Tobias Schäfer: „Made by Users“, in: O. Goriunova und A. Shulgin (Hrsg.): Software Art & Cultures. Aarhus 2004, S. 66 f.
[30]
Siehe Kinecthacks Website, in: Stand: 18.06.2011 http://kinecthacks.net/

Eine weitere amateurähnliche Herangehensweise digitale Medien zu nutzen ist bei Kindern zu erkennen. So berichtet beispielsweise 1977 Alan Kay von einem 12 Jahre alten Mädchen, das die Möglichkeit auf den Bildschirm malen zu können derart interessant fand, dass sie ein eigenes Zeichenprogramm schrieb, ohne jemals vorher irgendwelchen Computercode programmiert zu haben.[31] Und Sherry Turkle berichtete 1984 von einem Jungen namens Jarish, der so fasziniert von Videospielen war, dass er sich näher für sie interessierte, ihre Eigenschaft als digitale programmierbare Medien explizit zu schätzen begann, dann sogar anfing sie selbst im Sourcecode stückweise zu verändern und davon zu träumen irgendwann eigene Videospiele zu programmieren – ganz nach seinem Geschmack.[32]

[31]
Alan Kay: „Personal Dynamic Media“, in: Noah Wardrip-Fruin und Nick Montfort: The New Media Reader. Cambridge 2003, S. 399 f.
[32]
Sherry Turkle: „Video Games and Computer Holding Power“, in: ebd., S. 504 f.

Dieser spielerische Umgang mit digitalen Medien nach dem Trial & Error Prinzip erscheint mir überaus förderlich, um eine umfangreiche Kompetenz im Umgang mit dem Medium zu erlangen. Überhaupt ist der Ansatz der Hacker, sich ohne Hemmungen an ein Problem heranzuwagen sich von Fehlern nicht entmutigen zu lassen, sondern sie bewusst einzuplanen, in Bezug auf Digitalmedienkompetenz hoch interessant.




MEDIENKOMPETENZ IN DIGITALEN MEDIEN
Belehrung oder Barrierenabbau

Wenn man diesen Herangehensweisen aber die Probleme gegenüberstellt, die viele User scheinbar auch heute noch im Umgang mit digitalen Medien haben, dann wird umso deutlicher, weshalb eine Förderung der Medienkompetenz hier dringend nötig ist. Nicht von Ungefähr kommen Passagen in Medienpädagogischer Fachliteratur wie: „Bei Computerproblemen oder Situationen, in denen ein gewohnter Arbeitsablauf verändert werden sollte, fielen eine große Unselbständigkeit und ein Hang zur Passivität auf. Das Selbstbild des 'dummen Users', der überzeugt ist, diesen Zustand nicht ändern zu können, wurde besonders deutlich“ [33] oder „Zu oft ist der Computer noch die unantastbare Black Box, der wir zwar gelegentlich Pest und Cholera an den virtuellen Hals wünschen, deren Benutzungsprotokoll wir aber nur unwesentlich beeinflussen zu können glauben. Der Computer scheint uns seine Nutzung zu diktieren“.[34]

[33]
Carsten Schulte und Maria Knobelsdorf: „Medien nutzen, Medien gestalten“, in: C. Albers, J. Magenheim und D. M. Meister (Hrsg.): Schule in der digitalen Welt. Wiesbaden 2011, S. 106
[34]
Marc Fritzsche: „kunst://computer“, in: ebd., S. 239

Die Zitate von Schulte/Knobelsdorf und Fritzsche beschreiben ein Unbehagen gegenüber digitalen Medien, das weit über die Altersklassen von Digital Natives hinausgeht. So dürfte eigentlich offensichtlich sein, dass Medienkompetenz nicht nur mit schulischen Konzepten zu fördern ist, sondern umfangreicher gedacht werden muss. Das soll natürlich nicht bedeuten, der Digital Native sei dem Digital Immigrant prinzipiell überlegen – im Gegenteil: so beschreibt Marc Fritzsche beispielsweise seine Erfahrung aus dem Schulalltag, dass Schüler durch häufige Nutzung zwar schnell und ungehemmt vorgehen, aber „im produktiven Bereich erhebliche Defizite aufweisen“.[35] Auch Randy Pausch und Caitlyn Kelleher sehen das Gefälle nicht von Jung nach Alt, sondern von Jungen zu Mädchen,[36] wobei aber wohl auch das zu spezifisch ist und die wahrscheinlich einzig mögliche generelle Folgerung aus diesen Beobachtungen die ist, dass Probleme im Umgang mit digitalen Medien weniger bei einer Gruppe zu finden sind, sondern quer durch die Gesellschaft überall. Hier würden wohl auch Schulte und Knobelsdorf zustimmen, die eine Ursache dieser Probleme eher in individuellen Computernutzungsbiographien sehen, also in sehr persönlichen Eindrücken in den Biographien, die in einer Unterscheidung in nur nutzenden oder gestaltenden Umgang mit Computern mündet.[37]

[35]
ebd., S. 240f.
[36]
Caitlyn Kelleher und Randy Pausch: „Using storytelling to motivate programming“, in: Communications of the ACM Vol.50/No.7 (2007), S. 60
[37]
Carsten Schulte und Maria Knobelsdorf: „Medien nutzen, Medien gestalten“, in: C. Albers, J. Magenheim und D. M. Meister (Hrsg.): Schule in der digitalen Welt. Wiesbaden 2011, S. 104 f.

Davon ausgehend sehen die beiden Autoren den Schlüssel zum Erfolg in der Dualität von Struktur und Funktion: Nur wer als User die Dualität erkennt, wird ihrer Meinung nach fähig sein die Möglichkeiten des digitalen Mediums zu kennen und schätzen zu lernen. Sie lehnen deshalb die Unterrichtung reinen Struktur- oder Funktionswissens ab, weil einerseits Strukturwissen in der Regel als zu professionell und nicht anwendbar vom Seminarteilnehmer abgelehnt wird und andererseits reines Funktionswissen der Medienkompetenzförderung nicht dienlich ist – das Wissen wie man MS Word bedient bringt jedenfalls eine umfangreiche Digitalmedienkompetenz nicht voran. Stattdessen regen sie an die Dualität (und damit wiederum Strukturwissen) bewusst zu machen – und zwar versteckt, indem in Unterrichtsformen strukturelle Elemente in Funktionswissen verpackt werden. Als Beispiel nennen sie hier: Im Unterricht zur MS Word Nutzung kann explizit auch auf strukturelle Funktionen, wie automatisches Inhaltsverzeichnis, eigene Formatvorlagen oder Textmarken eingegangen werden und so das Strukturverständnis des Kursteilnehmers verstärkt werden.[38] Ein sehr interessanter Ansatz, der zwar aufgrund seiner Herkunft aus schulisch geprägter Medienpädagogik noch etwas zu sehr auf Unterrichtsformen konzentriert ist, der aber sicher noch weiterverwendet werden kann. Ich sehe hier beispielsweise auch die Möglichkeit diese unterschwellige Vermittlung von Strukturwissen nicht nur in der Unterrichtung von Nutzungstechniken zu vermitteln, sondern, wie sich vielfach als sinnvoll herausgestellt hat, über Nutzungen, die tatsächlich Spaß machen.

[38]
ebd., S. 112 ff.

So versuchen beispielsweise Kelleher und Pausch sehr erfolgreich Mädchen zum Programmieren zu motivieren, indem sie ihre ohnehin einfache Drag&Drop-Programmiersoftware "Alice" zu "Storytelling Alice" erweitern und das programmieren als das nächste logische Level des Erzählens von Geschichten positionieren. Daraus folgt, dass im Experiment eben genau die Schülerinnen, die Spaß am Geschichten erzählen haben, am Ende wesentlich mehr Engagement am Programmieren zeigten, als diejenigen, die mit dem normalen Alice arbeiteten, und sich durch diese Beschäftigung wesentliche Programmierkonzepte wie Loops, Conditionals, Methoden, Parameter, Variablen, Arrays und Rekursion aneigneten.[39] Der Ansatz von Schulte und Knobelsdorf, Strukturwissen versteckt zu vermitteln, hat hier also funktioniert – mit der Besonderheit, dass das Ganze mit einer Tätigkeit verknüpft ist, die dem User Spaß macht und so besondere Aufmerksamkeit erfährt.

[39]
Caitlyn Kelleher und Randy Pausch: „Using storytelling to motivate programming“, in: Communications of the ACM Vol.50/No.7 (2007), S. 61

Auch Marc Fritzsche schlägt eine interessante Methode vor, wenn er fordert im Kunstunterricht an Schulen analog zur URL-Schreibweise eine „Nutzung [digitaler Medien] im Sinne von kunst://computer anzustreben“.[40] Das hört sich zwar etwas seltsam an, meint allerdings schlicht, dass es dem Kunstunterricht nicht zuträglich ist, wenn Schüler lernen wie man ein Programm wie beispielsweise Adobe Photoshop benutzt, sondern dass Lehrkräfte im Kunstunterricht viel eher einen kreativen Umgang mit digitalen Medien fördern sollen, der nach alternativen, auch mal vom Hersteller nicht empfohlenen Nutzungsarten sucht [41] und damit der Vorgehensweise eines Hackers wieder sehr nahe kommt. Und nicht zuletzt passt zu alldem der Ansatz des Designers Tobias Leingruber für seine Browser Extension Plattform Artzilla: Er vergleicht urbanes Skateboarding mit dem Programmieren von Browser Code, weil in beiden Fällen die verfügbaren „Architekturen“ kreativ genutzt werden, um seinen Spaß damit zu haben.[42]

[40]
Siehe Marc Fritzsche: „kunst://computer“, in: C. Albers, J. Magenheim und D. M. Meister (Hrsg.): Schule in der digitalen Welt. Wiesbaden 2011, S. 239
[41]
Siehe ebd., S. 244 ff.
[42]
Tobias Leingruber: „Skate the web and other metaphors“, in: Stand: 20.06.2011 http://www.tobi-x.com/skate-the-web-and-other-metaphors/

Zusammengefasst kann man also festhalten, dass eine universelle Digitalmedienkompetenz am ehesten dadurch gefördert werden kann, dass die Dualität der Nutzung, wie von Schulte und Knobelsdorf gefordert, bewusst gemacht wird, idealerweise ohne Strukturwissen direkt zu vermitteln, sondern implizit über Vermittlungsformen, die vom User die notwendige Aufmerksamkeit erhalten. In welchem Rahmen das geschehen soll, bleibt dabei zwar offen, ich denke aber, dass besonders die Komponenten Spiel & Spaß nicht zu vernachlässigen sind, da sie durch erhöhte Aufmerksamkeitsbereitschaft eine Aufnahme von Strukturwissen enorm erleichtern können.




MEDIENKOMPETENZ IN DIGITALEN MEDIEN
Hello World!

In diesem Rahmen stelle ich meine eigenen Erfahrungen bezüglich Medienkompetenzförerung im Zusammenhang mit zwei verschiedenen Veranstaltungen vor: "Wiimote Masters" [43] und "Trail Blazers" [44] mit denen ich den Sprung von Online zu Offline markiere – und damit den Punkt, an dem der User bzw. Gast über Spiel & Spaß in direkten Kontakt mit Strukturwissen kommt. Hello World!

[43]
Siehe Wiimote Masters Website, in: Stand: 19.06.2011 http://nm.merz-akademie.de/~wii/website_alt/
[44]
Siehe Trail Blazers Website, in: Stand: 19.06.2011 http://nm.merz-akademie.de/trailblazers/

Wiimote Masters war ein Tennisturnier, gespielt auf der Wii Konsole von Nintendo. Die Besonderheit ist hier, dass die Teilnehmer eben nicht einfach auf einem Monitor spielen, wie es vom Hersteller vorgesehen wäre. Stattdessen wurde mit sehr einfachen Mitteln ein Setting geschaffen, das es den Spielern erlaubte sich auf einem dem tatsächlichen Tennisspiel möglichst nahe nachempfundenen Spielfeld gegenüberzustehen. Außerdem wurde durch die Turnierform ein, wie von der Webung versporchenes, aber alleine zuhause nach Feierabend wahrscheinlich selten tatsächlich errichtes, kollaboratives Spielvergnügen ermöglicht, das nebenbei noch aufzeigte, wie einfach es ist, die Nutzungsform eines Konsolenspiels zu verändern, das also nebenbei konkretes Strukturwissen vermittelte.

Trail Blazers ist ein Live Web Surfing Turnier, das vielleicht sogar noch etwas direkter mit Strukturwissen verknüpft ist. In den einzelnen Knockout-Runden treten mehrere Teilnehmer gegeneinander an, indem sie – nur mit der Computermaus ausgestattet – Hyperlinks klickend von Website A zu Website B gelangen müssen. Dabei lernt der Surfer notwendigerweise einen im Google Zeitalter nicht mehr alltäglichen Aspekt des WWW kennen, nämlich dessen über Hyperlinks vernetzte Struktur, die sozusagen das Web erst zum Web macht.

Beide Events wurden begleitet von einer Website, die dem gesamten Prozess von der Promotion über den Anmeldeprozess, die Live-Begleitung während des Events bis zur Dokumentation eine Plattform bietet. So kann eine permanente Aufmerksamkeitsspanne gehalten werden, die bei einer Digitalkulturveranstaltung nicht immer selbstverständlich ist. Beide Events wurden außerdem aufgrund der Turnierform mit einem Siegerpreis ausgestattet, was der Motivation der Gäste einen weiteren Schub gibt. Und zuletzt war die Gestaltung von Website und Veranstaltung den Themen angepasst und formte gemeinsam mit der Moderation alles zu einem stimmigen Gesamtbild.

Diese beiden Events möchte ich daher für eine Förderung von Digitalmedienkompetenz im Rahmen von Veranstaltungen als beispielhaft anführen. Nicht nur wegen ihrer Qualität Strukturwissen zu vermitteln, sondern auch generell, um geistige Barrieren in der Computernutzung abzubauen, zu ermutigen einen Computer nicht zwingend den Herstellervorgaben entsprechend zu verwenden und ultimativ auch Spaß in der Computernutzung vorzuleben und zu ermöglichen.

←  Having fun with 01!  →